Artenvielfalt Stadt - Arteneinfalt Land ?
a|e GALERIE angelika euchner
26.2. – 9.4.2022
Der Große Abendsegler ist eine Fledermausart, die sich zunehmend in Berlin heimisch fühlt. Im Brandenburgischen verschwindet sie. Besonders durch den Druck der Rotorenblätter unserer Windräder ist das Leben dieser fliegenden Säugetiere gefährdet. Julia Ehrt lässt sie munter im Schaufenster flattern. Eine davon liegt verletzt auf der Fensterbank. Weltweit sollen es noch über 4000 Fledermausarten geben. Bienenvölker beleben die Dachgärten Berlins und so manche Fassade. Lucia Dietlmeier hat im Auftrag von Angelika Euchner die „living wall“, eine begrünte Fassade in der Glogauerstrasse 9 in Berlin Kreuzberg fotografiert. Die Architektin des Gebäudes, Sarah Rivière, berichtet, dass es hier im Sommer summt und brummt. Allein von den Wildbienenarten gibt es in Berlin noch über dreihundertzwanzig. Und was summt und brummt noch im Umland? Erwärmung des Klimas und industrielle Landwirtschaft führen zu Arteneinfalt. Jürgen Matschie zeigt ein monoton angelegtes Gemüse-Gurkenfeld bei Werben in der Nähe von Cottbus. Dabei ist ihm eine fast klassisch zu nennende Landschaftsaufnahme gelungen. Mit über vierhundert Aufnahmen hat er die Auswüchse industrieller Landwirtschaft in der Ober- und Niederlausitz mit der Großbildkamera dokumentiert. Mit „Naturkost und Solaranlagen“ treffen bei Uwe Paul Schulze zwei Welten aufeinander. Gleichrangig neben Bio-Lebensmitteln „wächst“ Wärme und Strom auf den Feldern. Viele ökologische Initiativen in den letzten Jahren verhindern die zunehmende Arteneinfalt durch ihre Projekte wie etwa die SOLAWI bei Erfurt, deren Arbeit Yvonne Most verfolgt hat. Hier wird ein Regenwurm wortwörtlich zum „Bodenschatz“. (Ausschnitt der Fotoserie im Souterrain). Mit dem Titel „Unverfügbar“ widmeten sich vier Fotografen dem verwunschenen Steppengarten, nicht zugängliches Areal im Berliner Tiergarten. Ingo Weckwerth zeigt uns eine Winteraufnahme mit fragil anmutenden Sträuchern und Gräsern. Die Wilde Karotte wird bei Christina Straße in einem aufwendigen Bromöldruck zu einer blauen Möhre. Bruno Dorn koloriert „Stipa tenuissima“ in leuchtendem Orange. Mit „Blattblütenverschränkung“ zeigt Alina Pempe die erstaunliche Artenvielfalt im Steppengarten. Diese vier Fotografen, zu deren Fotoclub Lux 66 e.V. auch Lucia Dietlmeier gehört, betreiben seit einigen Jahren ein eigenes Fotolabor in Berlin Zehlendorf. Zur Pflanzen- und Gemüse- und Tiervielfalt tragen auch Patrizia Kranz-Schraven mit ihren Blütenpolsterkissen, Jan Beumelburg mit seinen blauen Bürstenkäfern und Raimund van Well mit seinen Kürbisstudien bei. Mathias Wunderlich, bekannt für seine Insektenbilder widmet sich einem Vogel-Fisch-Motiv. Und die alten Apfelsorten hat Oliver Zabel archiviert. So manchen Kunstkenner werden sie an Korbinian Aigner erinnern, der auf der Documenta 13 seine Apfelstudien ausgestellt hatte. Tina Flau als gelernte Landwirt verknüpft ihre Bohnenzucht mit ihrer künstlerischen Arbeit. In ihrem „refugée- Projekt-Tagebuch“ informiert sie uns über eine Bohnenart, die die Hugenotten hier eingeführt haben. Rainer Ehrt rettet die Artenvielfalt der Automarken humorvoll mit seiner speziellen Arche Noah. Annhoff (Annette Strathoff) hat eine Lösung für die Bäume gefunden. Aus „Baummu-onkels“ (Bezeichnung von Angelika Euchner) werden Baummu-tanten. In ihren Holzobjekten sind kleine Insektenhotels entstanden. So wird der Wald klimatauglich und die Kleinstviecher können überleben. Und da uns Städtern der Wald an sich nicht genug ist, wird er zum Abenteuerspielplatz mit Klettergerüst eingerichtet wie es Uwe Paul Schulze dokumentiert hat.
Interessant ist der Blick auf unsere Land-Wald-Stadt-Migranten. Der Fuchs kommt bei Maren Reblin in der Abenddämmerung zum Apéro vorbei. Bei Angelika Euchner liegt er wie ein Haustier im Sommer sogar auf dem Liegestuhl. Der Rabe von Heinz Bert Dreckmann, mit Kohlestift „portä-tiert“ ist neben der Krähe gerne abends mit seinen Kumpels in der Stadt. Es ist dort einfach wärmer und Futter gibt es reichlich. Krähen sind übrigens müllentsorgende Tiere, fressen Kadaver und sollen in Schweden zu „Zigarettenkippensammler“ dressiert werden, wie H.B. Dreckmann zu berichten weiß.
Nach so viel Arteneinfalt und Artenvielfalt zieht es uns in den lichten Urwald bei Helga Marie Bonenkamp, wo in abstrakter Manie die Morgensonne durch das Blattwerk strahlt (an der Tür, links). Doch wie wir alle längst wissen, wird er gnadenlos abgefackelt. Vor unserer eigenen Haustür gelingen uns glücklicherweise mit „urban gardening“, urbane Wälder in Leipzig und Imkern in den Städten eine erfolgreiche Gegenbewegung. Von Berlin, Hamburg, Osnabrück bis hin nach Paris und Singapur gibt es Erfreuliches zu berichten. Der „bosco verticale“ in Mailand lässt Bäume auf Balkone wachsen.
Und eine Besonderheit in der Ausstellung sind die Andachtsbilder von Sigrid Aschayeri und Ingar Krauss.
Getrocknete Pflanzen werden bei Aschayeri wie Raritäten vor vergoldeten Hintergrund gesetzt. Die einstigen Heiligen aus der byzantinischen Malerei machen jetzt Platz für die verschwindenden Pflanzenarten. Bei Ingar Krauss entstehen vegetarische Porträts: Maisblätter, Zuckerrüben, Silbertaler werden wie stille Persönlichkeiten inszeniert. In geheimnisvolles Licht getaucht sind sie nun aus dem Alltag enthoben und werden durch aufwendiges Fotohandwerk nobilitiert. Sollten wir nicht alle vor unseren Pflanzen und Tieren mehr Respekt zeigen und sie sogar mit Andacht betrachten?
Angelika Euchner, Berlin 2022
Ich danke Lucia Dietlmeier, Helga Maria Bonenkamp und Heinz Bert Dreckmann für ihre vielseitigen Informationen. Und Christian Fleming für seine praktischen Tipps und unermüdliche Aufbauhilfe.
„Die Erde ist die Quelle des Glücks. Heute verlassen wir sie, nicht zuletzt im Zuge der Digitalisierung der Welt. Die belebende, beglückende Kraft der Erde empfangen wir nicht mehr. Sie wird auf Bildschirmgröße reduziert.“
Byung-Chul Han „Lob der Erde. Eine Reise in den Garten“ Berlin 2018
a|e GALERIE angelika euchner
26.2. – 9.4.2022
Der Große Abendsegler ist eine Fledermausart, die sich zunehmend in Berlin heimisch fühlt. Im Brandenburgischen verschwindet sie. Besonders durch den Druck der Rotorenblätter unserer Windräder ist das Leben dieser fliegenden Säugetiere gefährdet. Julia Ehrt lässt sie munter im Schaufenster flattern. Eine davon liegt verletzt auf der Fensterbank. Weltweit sollen es noch über 4000 Fledermausarten geben. Bienenvölker beleben die Dachgärten Berlins und so manche Fassade. Lucia Dietlmeier hat im Auftrag von Angelika Euchner die „living wall“, eine begrünte Fassade in der Glogauerstrasse 9 in Berlin Kreuzberg fotografiert. Die Architektin des Gebäudes, Sarah Rivière, berichtet, dass es hier im Sommer summt und brummt. Allein von den Wildbienenarten gibt es in Berlin noch über dreihundertzwanzig. Und was summt und brummt noch im Umland? Erwärmung des Klimas und industrielle Landwirtschaft führen zu Arteneinfalt. Jürgen Matschie zeigt ein monoton angelegtes Gemüse-Gurkenfeld bei Werben in der Nähe von Cottbus. Dabei ist ihm eine fast klassisch zu nennende Landschaftsaufnahme gelungen. Mit über vierhundert Aufnahmen hat er die Auswüchse industrieller Landwirtschaft in der Ober- und Niederlausitz mit der Großbildkamera dokumentiert. Mit „Naturkost und Solaranlagen“ treffen bei Uwe Paul Schulze zwei Welten aufeinander. Gleichrangig neben Bio-Lebensmitteln „wächst“ Wärme und Strom auf den Feldern. Viele ökologische Initiativen in den letzten Jahren verhindern die zunehmende Arteneinfalt durch ihre Projekte wie etwa die SOLAWI bei Erfurt, deren Arbeit Yvonne Most verfolgt hat. Hier wird ein Regenwurm wortwörtlich zum „Bodenschatz“. (Ausschnitt der Fotoserie im Souterrain). Mit dem Titel „Unverfügbar“ widmeten sich vier Fotografen dem verwunschenen Steppengarten, nicht zugängliches Areal im Berliner Tiergarten. Ingo Weckwerth zeigt uns eine Winteraufnahme mit fragil anmutenden Sträuchern und Gräsern. Die Wilde Karotte wird bei Christina Straße in einem aufwendigen Bromöldruck zu einer blauen Möhre. Bruno Dorn koloriert „Stipa tenuissima“ in leuchtendem Orange. Mit „Blattblütenverschränkung“ zeigt Alina Pempe die erstaunliche Artenvielfalt im Steppengarten. Diese vier Fotografen, zu deren Fotoclub Lux 66 e.V. auch Lucia Dietlmeier gehört, betreiben seit einigen Jahren ein eigenes Fotolabor in Berlin Zehlendorf. Zur Pflanzen- und Gemüse- und Tiervielfalt tragen auch Patrizia Kranz-Schraven mit ihren Blütenpolsterkissen, Jan Beumelburg mit seinen blauen Bürstenkäfern und Raimund van Well mit seinen Kürbisstudien bei. Mathias Wunderlich, bekannt für seine Insektenbilder widmet sich einem Vogel-Fisch-Motiv. Und die alten Apfelsorten hat Oliver Zabel archiviert. So manchen Kunstkenner werden sie an Korbinian Aigner erinnern, der auf der Documenta 13 seine Apfelstudien ausgestellt hatte. Tina Flau als gelernte Landwirt verknüpft ihre Bohnenzucht mit ihrer künstlerischen Arbeit. In ihrem „refugée- Projekt-Tagebuch“ informiert sie uns über eine Bohnenart, die die Hugenotten hier eingeführt haben. Rainer Ehrt rettet die Artenvielfalt der Automarken humorvoll mit seiner speziellen Arche Noah. Annhoff (Annette Strathoff) hat eine Lösung für die Bäume gefunden. Aus „Baummu-onkels“ (Bezeichnung von Angelika Euchner) werden Baummu-tanten. In ihren Holzobjekten sind kleine Insektenhotels entstanden. So wird der Wald klimatauglich und die Kleinstviecher können überleben. Und da uns Städtern der Wald an sich nicht genug ist, wird er zum Abenteuerspielplatz mit Klettergerüst eingerichtet wie es Uwe Paul Schulze dokumentiert hat.
Interessant ist der Blick auf unsere Land-Wald-Stadt-Migranten. Der Fuchs kommt bei Maren Reblin in der Abenddämmerung zum Apéro vorbei. Bei Angelika Euchner liegt er wie ein Haustier im Sommer sogar auf dem Liegestuhl. Der Rabe von Heinz Bert Dreckmann, mit Kohlestift „portä-tiert“ ist neben der Krähe gerne abends mit seinen Kumpels in der Stadt. Es ist dort einfach wärmer und Futter gibt es reichlich. Krähen sind übrigens müllentsorgende Tiere, fressen Kadaver und sollen in Schweden zu „Zigarettenkippensammler“ dressiert werden, wie H.B. Dreckmann zu berichten weiß.
Nach so viel Arteneinfalt und Artenvielfalt zieht es uns in den lichten Urwald bei Helga Marie Bonenkamp, wo in abstrakter Manie die Morgensonne durch das Blattwerk strahlt (an der Tür, links). Doch wie wir alle längst wissen, wird er gnadenlos abgefackelt. Vor unserer eigenen Haustür gelingen uns glücklicherweise mit „urban gardening“, urbane Wälder in Leipzig und Imkern in den Städten eine erfolgreiche Gegenbewegung. Von Berlin, Hamburg, Osnabrück bis hin nach Paris und Singapur gibt es Erfreuliches zu berichten. Der „bosco verticale“ in Mailand lässt Bäume auf Balkone wachsen.
Und eine Besonderheit in der Ausstellung sind die Andachtsbilder von Sigrid Aschayeri und Ingar Krauss.
Getrocknete Pflanzen werden bei Aschayeri wie Raritäten vor vergoldeten Hintergrund gesetzt. Die einstigen Heiligen aus der byzantinischen Malerei machen jetzt Platz für die verschwindenden Pflanzenarten. Bei Ingar Krauss entstehen vegetarische Porträts: Maisblätter, Zuckerrüben, Silbertaler werden wie stille Persönlichkeiten inszeniert. In geheimnisvolles Licht getaucht sind sie nun aus dem Alltag enthoben und werden durch aufwendiges Fotohandwerk nobilitiert. Sollten wir nicht alle vor unseren Pflanzen und Tieren mehr Respekt zeigen und sie sogar mit Andacht betrachten?
Angelika Euchner, Berlin 2022
Ich danke Lucia Dietlmeier, Helga Maria Bonenkamp und Heinz Bert Dreckmann für ihre vielseitigen Informationen. Und Christian Fleming für seine praktischen Tipps und unermüdliche Aufbauhilfe.
„Die Erde ist die Quelle des Glücks. Heute verlassen wir sie, nicht zuletzt im Zuge der Digitalisierung der Welt. Die belebende, beglückende Kraft der Erde empfangen wir nicht mehr. Sie wird auf Bildschirmgröße reduziert.“
Byung-Chul Han „Lob der Erde. Eine Reise in den Garten“ Berlin 2018